Sie, jemand, alle, keiner

 Es regnet draußen. Dicke, schwere Tropfen prasseln gegen die Fensterscheibe. Ihr ist kalt, furchtbar kalt und sie zittert ein bisschen. Es ist  so dunkel am Himmel, dass man Licht  anschalten müssten, doch in ihrem kleinen, engen Zimmer flackert nur die Flamme einer Duftkerze. Das Orangenaroma umhüllt sie und sie glaubt den Weg, den die Duftschwaden durch den niedrigen Raum ziehen riechen zu können. Aber sie kann diesen fruchtigen Geruch nicht wie immer genießen. Es ist nicht nur das Wetter, das sie traurig stimmt, sondern tief in ihr ist etwas, das ihr zusetzt. Sie weiß  genau was es ist ,doch nie hätte sie gedacht, dass ihr das einmal so nahe gehen würde.

Sie schaut in den Spiegel an der Wand, steht auf von ihrem Kuschelsessel und betrachtet sich im Ganzen. Sie ist ziemlich mollig-okay- vielleicht etwas zu mollig, doch sie findet ihre Figur sehr weiblich. Ihre Rundungen machen sie reifer, erwachsener findet sie. Aber in ihrer Klasse gibt es keine Mitschülerin die genauso denkt, und wenn doch, keine würde sich trauen und das auszusprechen, denn die ANDEREN finden das hässlich und ekelig. Dabei fühlt sie sich wohl und sie ist doch wirklich nicht hässlich. Sie hat so ein hübsches Gesicht und so traumhaft blaue Augen in denen sich der tiefblaue Ozean zu spiegeln scheint, wenn man hinein- schaut. Ihre langen, dichten Wimpern muss sie nicht mal mit Kajal betonen so sehr heben sie sich von ihrem hellen Gesicht mit den Pfirsichbäckchen hervor. Und überhaupt es ist ja auch nicht so, dass sie ihrer Figur wegen  schrecklich unmodische Klamotten anhätte. Sie selbst liebt es shoppen zu gehen und ewig lange Klamotten vor dem Spiegel in großen Kaufhäusern anzuprobieren. Und die unverschämten Blicke, die ihr von abgemagerten Modepüppchen verstohlen von der Seite zugeworfen werden stören sie nicht im Geringsten. Nein, erst recht schlüpft sie noch in das süße Blümchenkleid mit dem etwas tiefen Ausschnitt - was soll’s! An „Pimkie“ und „Orsay“ geht sie selbst bewusst vorüber, weil sie weiß, dass sie die knappen Röckchen und engen Oberteile erst gar nicht anzuschauen braucht. Sie sagt sich dann immer, dass sie nun um so mehr Geld habe, welches sie in anderen Läden ausgeben könnte und sie muss ja auch den Bohnenstangen aus ihrer Klasse was übriglassen. Ein Blickfang ist  sie auf jeder Party, nicht vielleicht weil sie eine tolle Figur hat, einen knackigen Arsch... nein, weil sie Mut hat ihre reizvollen Körperstellen zu betonen. Natürlich ist das Wort reizvoll für jeden anderes definiert. Aber sie ist sich sicher, dass auf das Wortfeld der Adjektive, die den weiblichen und männlichen Körper beschreiben schon lange Propaganda verübt wird und wie beim Sondermüll alles schädliche und hässliche aussortiert wird.

Dabei fühlt sie sich doch so wohl in ihrer Haut unter diesen zwangsläufig entstandenen Fettpölsterchen. Natürlich könnte sie auf ihre überflüssigen Pfunde gut verzichten, aber nicht auf fettige Pommes mit Majo und Ketchup-Krönchen oder Lasagne und Pizza oder Chips, Eiscreme, Pudding und....oh Gott, nie auf ihre geliebte Schokolade. Sie liebt es sich mit einer Kanne heißem Tee in ihren Kuschelsessel zu kauern, einen dramatischen Liebesfilm anzuschauen und unter Tränen Tafelweise Schokolade zu vernaschen. Am liebsten mit Praliné-Füllung ...mmmhhhh... schmelz.

Aber wenn sie mit ihren Freundinnen in einem ihrer Lieblingscafés sitzt, um zu quatschen, ist sie die einzige die einen Schokobecher mit ganz vieeeeel Sahne genüsslich auf der Zunge zergehen lässt, während die anderen hinter ihrem Sprudelwasser oder“ ausnahmsweise und nur heute mal“ einer Eisschokolade sitzen und ihr die mahnendsten und dringlichsten Vorwürfe machen, so unachtsam mit seiner Figur umzugehen. Aber sie schmunzelt immer nur amüsiert vor sich hin. Sie kann einfach nicht verstehen warum es Menschen gibt, die ihre ganze Freizeit damit verbringen sich in Muckibuden abzurackern, sich mit Diätplänen beschäftigen wie mit einem Forschungsprojekt, nur um sich schön zu fühlen. Was ist eigentlich schön? Ist das nicht irgendwie ein Gefühl oder der Ausdruck für innere Bewegtheit? Sie glaubt ja, doch es scheint als wäre es ein Klischee oder sogar eine Pflicht. Die Pflicht schön zu sein, so auszusehen wie die Ladies und Gentlemen auf Laufstegen, Kinoplakaten und auf den Bildschirmen der Fernsehapparate. Was soll das? Jeder ist irgendwie schön, man muss nur was aus sich machen. Nein, aber nicht das was alle oder eben bestimmte Leute aus sich machen, also JEMANDEN nachmachen, sondern man sollte SICH  zu JEMANDEM  machen, einem schönen Individuum. Sie kann sich nicht erinnern jemals etwas über den Ursprung dieses Wahns erfahren zu haben, der schon soweit reicht, dass chirurgische Eingriffe zur Normalität geworden sind, so wie der Gang zum Zahnarzt oder Frisör. Erst recht schockierend ist ja, dass selbst in ihrer Klasse über die geplante Brustvergrößerung, die man jetzt schon vom Freund zu Weihnachten kriegt gesprochen wird wie über das Wetter. Klar nicht alle haben vor sich Fettabsaugen zu lassen oder die Lippen aufzuspritzen, doch alle reden mit. Wer keine Ahnung hat oder die Sache für Schwachsinn hält ist spießig und out. Nicht überall, aber sie ist sich sicher, dass derartige Gespräche irgendwann zur Normalität werden. Dann, wenn Energiedrinks und –riegel mit wenigen Kalorien und vieeel Eiweiß  Schokoriegel und Kakaodrinks aus den Ladenregalen verdrängt haben und die Zahl der Psychokliniken für Mager- und Sportsüchtige und die für plastische Chirurgie die Zahl der „normalen“ Krankenhäuser überstiegen hat und es notwendig sein wird seinen Körper wie Michael Jackson zu versichern.

Okay sie übertreibt maßlos, aber es kann sie schon manchmal in Rage bringen, wenn sie wieder einmal im TV eine Sendung ansieht, die sich mit diesem Thema befasst. Überall wird man vollgestopft mit Diäten und Berichten über die Idealfigur, doch sich mit Hamburgern vollzustopfen wäre unverzeihlich. Die Größe XL scheint eine Sünde und mit XXL sollte man längst in der Hölle schmoren. Aber was soll das? Klar muss man abnehmen, wenn gesundheitliche Schäden entstehen oder man sich unwohl fühlt, aber doch nicht um dem Idealbild ANDERER zu entsprechen. Sie hat sogar kürzlich erst gehört, dass gutes Aussehen ein Punkt ist, der bei Einstellungsgesprächen berücksichtigt wird. Lächerlich. Aber dennoch Menschen mit Idealfigur scheinen die größeren Karrierechancen zu haben, weil sie diszipliniert sein müssen, hart und kämpferisch um ein solches Aussehen zu erlangen oder zu behalten. Aber sie kann sich kaum vorstellen, dass man glücklich ist wenn man immer verzichten muss oder sich immer zurückhalten muss, sogar, wenn man von einem leckeren Stück Sahnetorte angelacht wird oder das Schild „Döner“ mit unverschämt verlockenden Preisen winkt. Sicher ist es befriedigend an sich zu arbeiten, sich zu verbessern, doch sie kann sich nicht vorstellen, dass die Vollkommenheit für je einen Irdischen Menschen erreichbar ist, wenn selbst Jesus seine Fehler hatte und auch Mahatmah Gandi. Außerdem bezieht sich Vervollkommnung ja nicht nur auf’s Äußere, denn auch der Geist strebt ja wissentlich nach seiner Verfeinerung und Vollendung. Und sie glaubt, dass die Seele und damit das innere Wohlbefinden bei einer kontinuierlichen Beschäftigung mit dem Aussehen zu kurz kommt, ja das Gefühl für das ICH sogar abstumpft und verschlungen.

Genug philosophiert. Sie lächelt in den Spiegel und wischt ihre letzten Tränen von den glühenden Wangen, den salzigen Geschmack in den Mundwinkeln. Es gibt doch noch Jungs die auf füllige, weibliche Mädels wie sie stehen. Björn liebte sie so wie sie war. Ja... er liebte. Vor zirka einer Stunde hat er Schluss gemacht. Vor genau 57 Minuten und 24 Sekunden. Er hat einfach so Schluss gemacht. Aber immer sagte er ihr doch wie schön sie doch war und sie hatten so wahnsinnig viel Spaß miteinander. Waren es vielleicht die Hänseleinen von seinen „Kumpels“ ... nein, er hatte sie immer streng verteidigt und sich nie unterbuttern lassen. War es eine andere? Eine Barbie mit Siliconbusen in Pimkieklamotten und mit eingebautem Kalorienzähler. Sicher nicht, Björn steht nicht auf Knochengerüste.

Sie weiß es nicht und lässt sich mit traurigen Augen in ihren Kuschelsessel plumpsen.

Es regnet immer noch. Die Duftkonzentration im Raum hatte nachgelassen, denn das Teelicht war abgebrannt. Sie nahm sich eine Tafel Alpenmilchschokolade mit der lila Kuh und goss sich heiße Schokolade in eine megagroße Schlürftasse. Dann schaltet sie den Fernseher ein und siehe da... es wird eine Dokumentation gezeigt, die nicht etwa die Idealfigur der Powerfrau von heute propagiert, nein eine Sendung, die den gefährlichen, oftmals tödlichen Schönheitswahn der heutigen Gesellschaft anprangert und verurteilt. Sie muss grinsen. Morgen wird sie erst ’mal ausgiebig bummeln gehen und danach geht sie ins Schwimmbad, Leute treffen.

Nathalie Nöth (D - 17 Jahre)
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